Rückwärts fahren
Sind Sie auch enttäuscht, wenn Sie im Zug keinen Platz in Fahrtrichtung bekommen? Mir jedenfalls geht es so. Manchmal muss ich daher gezwungenermaßen rückwärts-fahren. Eigentlich mag ich das nicht.
Dabei hat das Rückwärtsfahren durchaus seinen Reiz. Es erlaubt einen Blick in die Vergangenheit. Ich sehe zwar nicht, was auf mich zukommt, aber ich sehe, was hinter mir liegt.
Beim Vorwärtsfahren ist das Neue oft von weitem zu sehen und ich kann mich darauf einstellen. Was kommt, scheint irgendwie berechenbar und unter Kontrolle.
Beim Rückwärtsfahren bin ich immer zu spät. Ich habe keine Zeit, mich vorzubereiten. Ich werde überrascht. Plötzlich ist etwas da – und schon wieder weg. Weil ich beim Rückwärtsfahren nicht wissen kann, was auf mich zukommt, muss ich auch nichts tun. Ich kann es auch gar nicht. Ich kann mich zurücklehnen und die Dinge an mir vorbeiziehen lassen.
So ist Rückwärtsfahren eigentlich eine Lebensschule:
- Die erste und wichtigste Lektion heißt: Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Ich kann mir zwar Vorstellungen machen und ich kann manchmal auch vorsorgen – aber vieles kommt anders, als ich geplant, erwünscht oder befürchtet habe. Es lohnt sich also nicht, mir große Sorgen zu machen.
- Die zweite Lektion: Vieles steht nicht in meiner Macht. Meine Möglichkeiten sind begrenzt. Es gibt Dinge, die ich nicht beeinflussen kann. Die Zukunft liegt nicht allein in meinen Händen. Und oft kann ich nichts anderes tun, als zuzulassen, was kommen mag.
- Die dritte Lektion: Erst im Blick zurück vermag ich die Dinge einigermaßen zu ordnen. Wenn ich in meinem Leben so etwas wie ein Muster erkenne, dann nur im Rückblick auf die Zeit, die hinter mir liegt. „Leben kann man nur vorwärts, Leben verstehen nur rückwärts“, schreibt Sören Kierkegaard.
Aber wo ich auch sitze, eines bleibt gleich: Während sich draußen alles ändert und die Zukunft blitzschnell in die Vergangenheit übergeht, bin ich als Beobachter im Zug immer in der Gegenwart. Woher ich auch komme, wohin ich auch gehe – jetzt sitze ich im Zug und schaue aus dem Fenster.
Allzeit eine gute Fahrt durch´s Leben wünscht
Nikolaus Bernhard
(nach: Lorenz Marti, Mystik an der Leine des Alltäglichen, Freiburg 2016 )