Sich totlaufen mit dem Schatten?
In einer Erzählung aus Asien heißt es: „Es war einmal ein Mann, den ängstigte der Anblick seines eigenen Schattens so sehr, dass er beschloss, ihn hinter sich zu lassen. Er sagte zu sich: Ich laufe ihm einfach davon. So stand er auf und lief davon. Aber der Schatten folgte ihm mühelos. Er sagte zu sich: Ich muss schneller laufen. Also lief er schneller und schneller, lief so lange, bis er tot zu Boden sank.“
In der Tat: Es ist oft zum Davonlaufen – weg von den Konflikten, weg von den zerbrochenen Beziehungen, weg von Halbwahrheiten und Inkonsequenzen, von Versagen und Schuld, weg, weit weg, ja nichts mehr davon hören, ja nichts mehr davon sehen. – So sind wir auf der Flucht vor unserem Schatten. Aber er sitzt uns auf den Fersen, er folgt uns mühelos.
Und dann der innere Schatten und die verdrängten Schuldgefühle, die inneren Verletzungen und Wunden. „Da muss doch endlich Gras drüber wachsen!“ sagen wir.
Muss die Schatten-Geschichte immer so enden, dass man sich totläuft? Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Die Erzählung geht weiter: „Wäre der Mann in den Schatten eines Baumes getreten, so wäre er seinen eigenen Schatten losgeworden. Aber darauf kam er nicht.“
Hier sind wir mit unserer Geschichte am Ende. Aber hier beginnt eine andere Geschichte: Gott hat sich unserer Sache angenommen. Er hat in unserer Mitte einen Baum aufgerichtet, den Baum des Kreuzes. Wir dürfen uns mit unserer Schuld, mit allem, was zerbrochen, ist unter diesen Baum stellen. Dann brauchen wir nicht mehr unserem Schatten davonlaufen. Auch unsere dunklen Seiten dürfen wir annehmen. Wir brauchen nichts zu verdrängen, wenn wir unter dem Kreuzesbaum Versöhnung mit unserer eigenen Lebensgeschichte erfahren.
(in: Erick Purk (Hrg.), licht werden, Der spirituelle Fastenbegleiter, Stuttgart 2005, etwas gekürzt)
Ihnen allen immer wieder neu die Erfahrung des „schattenspendenden Kreuzes“ wünscht Nikolaus Bernhard