„Mit meinem Gott überspringe ich Mauern.“ Dieser Vers aus dem Psalm 18 war der Auftakt eines anregenden Vortrages von Diakon Peter Wellkamp im Roncallihaus der katholischen Pfarrei St. Georg und Michael. Der Mensch hat ein grundlegendes Bedürfnis nach Transzendenz, nach etwas, das unser Dasein übersteigt. So ist Spiritualität ein wesentlicher Teil menschlicher Existenz. Es geht um die Offenheit für ein geisterfülltes Leben, geprägt vom Heiligen Geist – lateinisch: Spiritus. Kurz: Ein Leben im Geist Jesu Christi.
Spiritualität, Frömmigkeit und Religiosität gehören zusammen. Schon lange zeichnet sich ab, dass religiöse Monopole immer mehr aufbrechen. Es gibt in der Forschung die Meinung von einer Wiederkehr des Religiösen, jedoch eher in freien und individuellen Formen des privaten Bereichs. Neue Studien sind dagegen eher ernüchternd. Immer mehr Europäer sagen: „Wir brauchen gar keine Religion!“
Ist Religiosität sinnlos? Nein! Sie muss aber einen klaren Bezug zum Leben und zum Alltag haben.
Das mittelalterliche Miniaturbild der Hildegard von Bingen (1098 – 1179) „Der Kosmosmensch“ veranschaulicht auf schöne Weise die Verflochtenheit des Menschen. Er steht aufrecht, seine Arme sind ausgebreitet, mitten im Fadenkreuz des Kosmos. In der Bildmitte eine braune Kugel, Sinnbild für die Erde, auf der sich alles Leben ereignet. Feine, goldene Linien durchziehen alle Bereiche des Bildes – eine Verbindung, die Himmel und Erde, Mensch und Natur und alles Leben miteinander in Beziehung setzt.
Gott, Vater und Schöpfer, ist über allem. Er trägt das große Schöpfungsrad, das von der Kraft der Liebe, einer feurigen Christusgestalt gehalten, umarmt wird. (Vgl. Bildmeditation „Der Kosmosmensch“, Hildegard von Bingen, Abtei St. Hildegard.) Der Mensch ist der Erde verhaftet und weist zugleich über sich hinaus. Er ist in geborgener Beziehung zum Göttlichen, zur Ewigkeit.
Im Mittelalter war der Akzent eher auf dem Jenseitigen – heute zählt bei vielen nur noch das Diesseits. Papst Benedikt XVI. sprach von der „Schwerhörigkeit des modernen Menschen gegenüber Gott“. So besteht die Gefahr, sich selbst einzuschränken und auf das heilsame Potential des Religiösen bei Genesungsprozessen zu verzichten. Spiritualität ist eine Kraftquelle!
Das Gebet umfängt das größte Geheimnis der Welt. Es verändert alles – zuerst uns selbst. Beim Beten ist der Mensch einfach nur da, in offener Haltung, wartend und hörend. Das ist ein totaler Gegensatz zum allgegenwärtigen „Zeit ist Geld.“ Das Beten verlangt ruhige Aufmerksamkeit, um nach innen zu hören und zu schauen. So kann sich eine heilende Wirkung entfalten. Es gibt aber die Gefahr, ohne innere Anteilnahme Gott „weg zu beten“.
Wer sich von der Barmherzigkeit Gottes getragen fühlt, muss eigene Fehler nicht wegerklären und kann eigene Schuld anerkennen. Das ist die Voraussetzung, um konstruktiv damit umzugehen. Es geht um die Befreiung aus dem inneren „Kopfgefängnis“.
Beim Dank- und Lobgebet ist das ausgesöhnte Leben im Blick. Lob und Leben haben den gleichen Wortstamm. Auch bei schwierigen und verstrickten Situationen gilt: „Es war so!“ Ich darf mich von Problemen lösen und Gott für alles Gute, das es auch noch gibt, danken. Die Katastrophenfixierung der Medien steht dem voll entgegen und kann das menschliche Denken dauerhaft negativ prägen. Wer weiß schon, dass sich seit den 50er Jahren die weltweite Armut halbiert und der Alphabetisierungsgrad verdoppelt hat?
Das Bittgebet ist Ausdruck der Angewiesenheit auf Gott. Unsere Lebensqualität hängt von guten Beziehungen ab.
Klagen hilft, das Leid zu lindern. Glauben heißt, die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang auszuhalten (Karl Rahner, Theologe).
Der regelmäßige Gottesdienstbesuch kann das Vertrauen zu Gott fördern. Gelassenheit und Gemeinschaft untereinander können entstehen. Es berühren sich Himmel und Erde.
So hat Spiritualität sehr viel mit dem Alltag zu tun. Dort, wo ich bin, bin ich verantwortlich. Die ganze Welt retten kann ich nicht – muss ich nicht. Das wirkt entlastend. Wer die eigenen Grenzen kennt und darauf achtet, was gut tut, lebt spirituell. Dazu gehört auch, (wohlgemerkt!) guten Gewissens „Nein“ sagen zu können. Muße ist notwendig, damit das Gehirn sich erholt und zur Ruhe kommt. Denn: In der Ruhe begegnen wir Gott.
Thomas Seibert, Diplomtheologe