Damit hatte die Bankangestellte nicht gerechnet. Sie hatte selbst keine Kinder und fühlte sich am Ende des Tages auf sehr ungewöhnliche Art wie eine gute Mutter, die einem jungen Menschen das Leben neu schenkte.
Was war geschehen? Ein junger Mann, der ihr Sohn hätte sein können, betrat die Bank und hielt ihr eine Pistole vor die Nase. Im Normalfall entsteht Panik und es kommt womöglich zu einem großen Unglück. Doch hier war es anders! „Junger Mann“, sagte sie, „mach keinen Unsinn und ruiniere nicht dein ganzes Leben. Steck die Waffe wieder ein, geh kurz nach draußen an die frische Luft, atme tief durch und denke gut nach.“
Der junge Mann tat, wie ihm geheißen, und ging. Er wurde nicht mehr gesehen. Ihr Vorgesetzter, schweißgebadet mit zitternder Hand am nicht betätigten Notfallknopf, brach zusammen. Als er wieder sprechen konnte, bedankte er sich bei jener Dame. Und damit endet die Geschichte. Es kam keine Polizei. Ob das korrekt war, können kluge Menschen erörtern. Entscheidend war, so die inzwischen hochbetagte Dame, einen jungen Menschen von einem großen Unglück abgehalten zu haben. Ein göttlicher Augenblick?
Auch unter schwierigsten Umständen – es gibt ihn dennoch: den göttlichen Augenblick, theologisch „Kairos“ genannt. Plötzlich ist Gott gegenwärtig – mitten im Unheil und wendet das Schicksal.
Der naheliegende Einwand: Es gibt so viel Unheil. Ein trauriger Blick in die Welt genügt. Das zu leugnen, wäre naiv. Aber: Die göttliche Gegenwart in dieser Welt gibt es trotzdem, jeden Tag neu. Das Unheil ist da – das Heil auch. Unkraut und Weizen – Gott lässt beides wachsen bis zum Tag der Ernte (Vgl. Matthäus 13,24-30).
Wir Christen vertrauen, dass am Ende aller Tage eine gute und vollkommene Welt sein wird. Ohne Not und Leid, ohne Tränen und ohne Bankräuber.
Thomas Seibert, Diplomtheologe